Mistel-Großbomben der Luftwaffe

Mistel-Großbomben der Luftwaffe

Von einem absprengbaren Jagdflugzeug aus gesteuert, wurden unbemannte Junkers Ju 88 mit einem riesigen 4-Tonnen-Hohlladungs-Sprengkopf gegen Kriegsschiffe und Brücken eingesetzt. Es gab sogar Pläne für die Zerstörung von sowjetischen Staudämmen mit den sogenannten Mistel-Flugzeugen. Der erste Teil  (mit insgesamt 38 Seiten!) der großen Mistel-Dokumentation befasst sich mit den propellergetriebenen Großbomben, im zweiten Teil in der FRX 64 werden dann die düsengetriebenen Mistelprojekte ausführlich beschrieben.
Einer der geheimnisumwitterten Verbände der Luftwaffe war die Gruppe des Kampfgeschwaders 200, die mit Mistel-Großbomben gegnerische Schiffe oder Kraftwerke zerstören sollte. Werner Schmidt aus Halle flog als Beleuchter Nachtangriffe des Verbandes mit. Bericht eines Zeitzeugen.
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Die akribische Versuchsarbeit der Deutschen Versuchsanstalt für Segelflug hatte bewiesen, dass ein Gespann aus einem Jagdflugzeug und einem zweimotorigen Bomber beim Start, im Flug, bei der Trennung und notfalls bei einer gemeinsamen Landung gefahrlos zu beherrschen war. Nun lag es an der Luftwaffe, einen passenden Einsatzzweck für dieses Flugzeugduo zu finden. Die angekündigte Landung der Westalliierten beunruhigte die Wehrmachtsführung und deren Oberbefehlshaber, Adolf Hitler, über alle Maßen. Der deutschen Führung war klar: Sollten die Westalliierten in Europa Fuß fassen, konnte Deutschland den dann beginnenden Zweifrontenkrieg nicht gewinnen. Die neuesten deutschen Geheimwaffen sollten die Invasion abwehren. In drei Phasen sollten diese Überraschungswaffen die Wirkung der herkömmlichen Abwehr verstärken. Mit einem Dauerfeuer der neuen Flugbombe Fieseler Fi 103 (bald V-1 genannt) sollten die britischen Ausgangshäfen der Landungsoperation beschossen und die Verladung von Truppen und Material behindert werden. Während der Überfahrt der Schiffe und des Trommelfeuers der Schlachtschiffe zur Vorbereitung der Anlandung der Truppen sollten die Mistel große Schiffseinheiten versenken und dadurch die Feuerkraft der Alliierten schwächen. Während der eigentlichen Anlandung würden schnelle deutsche Düsenjäger den feindlichen Jagdschirm durchdringen und die am Strand deckungslosen Truppen bombardieren. Dann (so glaubte die Wehrmacht) bestand die Chance, dass die Bunkerstellungen des Atlantikwalls die Gegner so lange aufhalten könnten, bis die deutschen Reserven aus dem Hinterland an die Front vorrücken könnten.
Die Vernichtung der schweren Kriegsschiffe war also ein zentrales Element des deutschen Abwehrplanes. Mit den herkömmlichen Bomben und Angriffsverfahren konnte das nicht gelingen. Der Kommandeur eines auf Schiffsbekämpfung spezialisierten Verbandes, der spätere General der Kampfflieger, Werner Baumbach, schreibt in seinen Erinnerungen „Zu spät?“ über seine Erfahrungen mit Angriffen auf alliierte Geleitzüge im Sommer 1942: „Für das zum Einsatz kommende Kampfflugzeug Ju 88 gab es kein Entrinnen mehr, wenn es einmal von dieser [Schiffs-Flak-]Abwehr erfasst war. Unsere Angriffsmethoden waren nicht nur taktisch, sondern auch technisch überholt. … Schon am 18. Januar 1942 hatten Peltz und ich diese Idee des Mistelflugzeugs, die von den Junkerswerken technisch fundiert war, erstmals Göring vorgetragen. Leider damals ohne Erfolg… Technisches Unverständnis der Luftwaffenführung und kleinliche Eifersüchteleien gegen alle von Außenseitern herangetragenen Vorschläge verzögerten die Bereitstellung um Jahre.“

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Wann die Idee entstand, den Bombenträger mit einer großen Hohlladung auszurüsten, ist nicht mehr genau nachzuvollziehen. Ursprünglich wurde, wie bei ähnlichen Entwürfen im Ausland auch, daran gedacht, im Sprengflugzeug jeden verfügbaren Raum mit Explosivstoff voll zu packen. Die Schwierigkeit bestand dann jedoch darin, die Zündung an allen Packungen gleichzeitig durchzuführen. Ging eine Teilladung nur Sekundenbruchteile früher hoch, wurde der restliche Sprengstoff in alle Richtungen verteilt und damit unwirksam. So wurde eine einzige, kompakte Sprengladung gewählt. Ende 1943 wurden an einem erbeuteten französischen Schlachtschiff Sprengversuche unternommen. Dabei zeigte eine große Hohlladung von über drei Tonnen Gewicht die verheerendste Wirkung auf die Panzerung. Obwohl die Stahldecks der „L‘ Ocean“ für den Versuch extra verstärkt wurden, durchschlug der heiße „Metallstachel“ der Hohlladung über 28 Meter alle Decks und Schotts. Man errechnete, dass eine solche Ladung eine Stahlplatte von acht Metern Stärke durchschlagen kann. Bei mit der gleichen Bombe in Ostpreußen angestellten Sprengversuchen wurden 18 Meter Beton ohne Probleme durchdrungen. Keine bekannte Panzerung war in der Lage, dieser großen deutschen Sprengladung zu widerstehen.

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So stand mit der Wahl von gepanzerten Zielen auch die Art der einzusetzenden Sprengladung fest: Die Mistel würden einen Kopf mit einer riesigen Hohlladung erhalten. Der Hersteller der Panzerfaust, die Hugo und Alfred Schneider AG (HASAG) in Leipzig, wurde also mit der Konstruktion eines großen Hohlladungssprengkopfes für die Ju 88 beauftragt. Der Sprengkopf erhielt die Bezeichnung SHL 3500. Dies hieß so viel wie „Schwere Hohlladung mit 3500 kg Gesamtgewicht“. Dabei entfielen 1700 kg auf den Sprengstoff. Dieser bestand aus 70 Prozent normalen Sprengstoffs Hexogen und 30 Prozent Beimischung von Trinitrotoluol – in der Luftwaffe wurde diese Mischung als Trialen-Sprengstoff bezeichnet. Die SHL 3500 hatte einen Durchmesser von 180 Zentimetern und war in der nach vorn zeigenden Hohlkehle mit Kupfer, manchmal auch mit Aluminium, ausgekleidet.

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Damit die Sprengstoffpackung beim Einsatz gegen Schiffe nicht vor der Explosion mit Aufbauten des Zieles kollidiert, wurden die Zünder an einen 275 cm langen Ausleger vor die Ladung verlegt. Der sogenannte „Elefantenrüssel“ hatte an seiner Spitze gleich vier elektrische Zünder, die eine Explosion sicherstellen sollten. Der vordere Teil des Zünderauslegers konnte am Boden teleskopartig zurückgeschoben werden und verkürzte so die Entfernung zwischen Zünder und Ladung. Damit konnte die Zündverzögerung je nach angepeiltem Ziel angepasst werden. Für den gegen Ende des Krieges geplanten Angriff gegen sowjetische Staudämme wurde eine extra kurze Variante des „Elefantenrüssels“ konstruiert. Die Ladung wurde (zur Beruhigung der Leitpiloten) erst drei Sekunden nach Abkoppeln des Leitflugzeuges scharf gestellt. Solange die Landeklappen der Ju 88 ausgefahren waren, konnte die Ladung überhaupt nicht geschärft werden. Dies sollte eine Explosion im Falle eines Fehlstarts verhindern.

Kostenloser Download:

Junkers-Patent für im Flug ab- und ankoppelbares Bordflugzeug
Auflösungsbefehl für das Kampfgeschwader 200 vom 17. April 1945
Aufzeichnungen von Kampfbeobachter Werner Schmidt zur Flugzeugbewaffnung