Sowjetische Jagd nach deutscher Raketentechnik 1945-1946

Sowjetische Jagd nach deutscher Raketentechnik 1945-1946

Wie im Flugzeugbau nutzten nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem die Sowjetunion und die USA das Wissen deutscher Spezialisten auch im Bereich von Raketen mit Flüssigkeitstriebwerken. Es wurde eine der wichtigsten Bestrebungen sich diese Technik anzueignen, ihrer Erfinder habhaft zu werden und auf dieser Basis in kurzer Zeit eigene Raketentechnik zu entwickeln.

Die politische und militärische Führung der UdSSR erhielt die ersten Informationen über die deutsche Raketenentwicklung und Einschläge von A4 aus England, was aber kein besonderes Interesse hervorrief. Erst nach Churchills Brief gab das Oberkommando den Befehl, Raketenbeutetechnik besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Alle führenden Spezialisten des NII-3 kommandierte man an die Front mit der Aufgabe, alle Informationen zu sammeln und Dokumentationen, Raketen oder ihre Bauteile sicherzustellen. Besondere Bedeutung erhielt die Weisung mit dem amerikanischen Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August. Plötzlich sah sich die UdSSR als nächstes mögliches Ziel dieser Waffe und es erhielt nicht nur das Atom­waffenprogramm höchste Priorität, sondern auch die Entwicklung eines weitreichenden Trägersystems. Das auch unter dem Aspekt, dass die Sowjetunion nicht über Langstreckenbomber verfügte und sich ballistische Raketen als effektivere Alternative dafür anboten.

Die sowjetische Gruppe begann nahe der polnischen Ortschaft ­Debica im Herbst 1944, wenn auch relativ planlos, zu suchen. Nach einer Woche trafen die Engländer ein, die über eine genaue Karte des Schießplatzes mit den Koordinaten der Raketenstarts und der Absturzstellen verfügten. Den Sowjets übergeben, erleichterten sie deren Arbeit wesentlich. Ohne die englischen Informationen wäre die Sowjetarmee über das Gelände marschiert ohne zu wissen, was hier geschehen war.
Die gefundenen Teile zerlegter A4, von Triebwerken, Steuereinrichtungen und Reste demontierter Abschussanlagen überstellte man nach Moskau zum Wissenschaftlichen Forschungsinstitut NII-1 des Volkskommissariats für Luftfahrtindustrie. Eine Gruppe wissenschaftlicher Mitarbeiter erhielt Zutritt.

Boris Tschertok schreibt dazu: „Als ich den Saal betrat, erblickte ich sofort die dreckige schwarze Düse, aus der der untere Teil des Körpers von Isajew herausragte. Er war in die Düse der Brennkammer gekrochen und untersuchte die Feinheiten. Ich fragte, was das sei. „Es ist das, was nicht sein dürfte!“, war die Antwort. Flüssigkeitsraketentriebwerke dieser Ausmaße konnten wir uns einfach nicht vorstellen.“ Hielten die sowjetischen Konstrukteure ein Triebwerk mit einem Schub von 2000 kp (19,62 kN) für das maximal machbare, hatten sie hier eines mit 25,5 Tonnen (270 kN) vor sich. Die Gruppe rekonstruierte aus den Fragmenten den Aufbau und die Leistung der Rakete. Später zeigte sich, dass die Ergebnisse den tatsächlichen Werten sehr nahekamen. Weder die Sowjetunion noch die Verbündeten verfügten über eine ähnliche Entwicklungen. Hier war eine neue gefährliche Waffe entstanden.

Im ersten Quartal 1945 wurde die Entsendung von Ingenieuren aus dem NII-1 nach Deutschland beschlossen, um Muster deutscher Raketen- und Flugzeugtechnik, Ausrüstungen und technische Dokumentationen zu sammeln und nach Moskau zu schicken. Dessen ungeachtet befasste sich sonst niemand mit der Raketentechnik. Es bestand im Gegensatz etwa zur Messerschmitt Me 262 wenig Interesse an den lenkbaren Raketen. Bei den Truppen hatte niemand eine Vorstellung vom Wert der technischen Geräte, Versuchsstände, Laboratorien und Akten, sodass bei der Eroberung entsprechender Einrichtungen vieles vernichtet wurde.
Am 23. April landete die Gruppe mit u.a. Isajew, Tschertok und Konowalow in Deutschland und folgte den angreifenden Truppen fast auf dem Fuß. Sie sollten die neueste deutsche Technik und Dokumente sicherzustellen. Wie Konowalow schildert, wurde vieles durch die Truppen zerstört. Nach Moskau geschickte Dokumente, wie z.B. aus dem Flugforschungsinstitut in Adlershof, verschwanden, nachdem man sie auf mehrere Institutionen verteilt hatte. Nur wenige wie z.B. Isajew und Tschertok, später auch Koroljow und Gluschko, hatten Interesse an der Raketentechnik.